„Solidarität und Empathie als Jahresmotto“

weinheim LogoJahresinterview mit Oberbürgermeister Heiner Bernhard – „Weinheim bleibt eine soziale Stadt“

Herr Oberbürgermeister, 2016 war für die Kommunen das Jahr zwei der großen Flüchtlingsbewegung. Um mit der Kanzlerin zu sprechen: Schaffen wir das?
Heiner Bernhard: Ich benutze diese Formulierung eigentlich bewusst nicht, weil sie in Ihrer Absolutheit das Thema zu stark vereinfacht. Es gibt Anforderungen im Kontext des Flüchtlingsthemas, die sind zu schaffen. Andere nicht.

Dann eben etwas genauer nachgefragt: Was können Sie schaffen?
Wir haben es geschafft, innerhalb eines Jahres dem Gemeinderat mit den entsprechenden Vorlagen die Entscheidungsgrundlage für nicht weniger als sieben Unterkünfte für die kommunale Anschlussunterbringung zu liefern. Das bedeutet die Erfüllung unserer kommunalen Pflichtaufgabe – und Wohnraum für etwa 350 Personen. Das entspricht in etwa der Zahl, die wir an Zuweisung erwarten müssen. Das war für das Amt für Immobilienwirtschaft aber auch für andere beteiligte Ämter und Stellen ein gewaltiger Kraftakt. Aber es ist gelungen.

Wie Sie schon sagten, eine kommunale Pflichtaufgabe. Also nichts Besonderes?
Das sehe ich ganz anders. Wir haben uns mit dem Gemeinderat früh darauf verständigt, eine nachhaltige Lösung anzustreben. Erste Prämisse: Die Gebäude müssen auf Dauer soziales Wohnen in der Stadt ermöglichen; der Bedarf ist da! Zweite Prämisse: Wir strapazieren dadurch den ohnehin angespannten Wohnungsmarkt im unteren Preissegment nicht weiter, sondern wir entlasten ihn auf Dauer. Ich greife jetzt vielleicht weit vor, aber vielleicht wird man in einigen Jahren sagen: diese Wohnungsbaupolitik hat Weinheim dauerhaft ein Stück sozialer gemacht, da hat man in der Krise eine Chance genutzt.

Jetzt muss der zweite Teil der Frage kommen: Was können Sie nicht schaffen?
Sagen wir es mal so: Es gibt in Weinheim und anderswo eine sehr große Anzahl von ganz bewundernswert engagierten Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren. Ihnen kann man gar nicht oft genug danken. Aber selbst eine solche Bewegung schafft die Integration der geflüchteten Menschen nicht in vollem Umfang. Da gibt es Defizite, weil der Staat nicht in dem Maße das geforderte Tempo halten kann, zum Beispiel bei der Integration ins Arbeitsleben. Das wiederum löst mitunter Frustration bei den Ehrenamtlichen aus, da muss eine Kommune versuchen zu vermitteln. Und: Für die finanziell sowieso vernachlässigten Kommunen entstehen ungerechtfertigte Kosten, die eigentlich von Bund und Land zu tragen wären.

Was offensichtlich nicht gelungen ist, das ist das gegenseitige Abwägen der Investitionen. Müssen die südlichen Ortsteile auf ihre Sporthallen verzichten, weil das Geld stattdessen in die Anschlussunterbringung fließt?
Es wäre unredlich, dies derart in einen Zusammenhang zu bringen. Die Diskussion um die Anschlussunterbringung hat uns in der Tat dazu gezwungen, die Kommunalfinanzen neu zu justieren und neu zu bewerten. Die Finanzierung von Sporthallen in Lützelsachsen und Hohensachsen war auch vor dem Flüchtlingsthema eigentlich nicht zu leisten, vor allem wenn man die Folgekosten betrachtet.

In welchem Zeitraum können die südlichen Ortsteile nun denken?
Es kann da keine zeitlichen Zusagen geben. Ich sage: Wenn sich die finanzielle Situation der Stadt Weinheim grundlegend geändert hat, dann können wir uns das leisten.

Mit dieser Aussage sind sicher nicht alle zufrieden.
Ich weiß. Aber die kurz- und mittelfristige Lösung, das Angebot einer Dreifeld-Halle am neuen Schulzentrum West und eine sanierte große Halle am Bonhoeffer-Schulzentrum ist ja sogar eine Verbesserung gegenüber dem heutigen status quo. Davon haben alle Vereine etwas, natürlich auch in den Ortsteilen. Übrigens, Lützelsachsen ist von diesen Standorten nicht weiter entfernt als zum Beispiel die Nordstadt oder das „Müll“.

Neulich bei der Haushaltseinbringung haben Sie von einer bedrohlichen Schieflage gesprochen, gibt es denn Aussicht auf Besserung?
Weinheim ist seit Jahren im Verhältnis zu seinen Aufgaben strukturell unterfinanziert. Schauen Sie sich einmal andere Kommunen vergleichbarer Größe im Land an. Dort ist das Gewerbesteuereinkommen teilweise doppelt so hoch, und das seit Jahren! Deshalb können wir im Ausgabenbereich ein paar Stellschrauben drehen, aber nicht unsere komplette Finanzstruktur ändern. Wir brauchen dringend neue Gewerbeflächen; wir haben ja seit zwei Jahren keine mehr. Wir können jetzt schon Unternehmen nichts anbieten, die in Weinheim umsiedeln und erweitern wollen. Ich wünsche mir, dass dies in der Politik aber auch in der Bürgerschaft in dieser gegenseitigen Abhängigkeit diskutiert wird. Ohne eine deutliche Verbesserung unserer Einkommenssituation können wir uns viele Dinge nicht leisten – und in Zukunft sicher sogar weniger als jetzt. Ich werde das auch weiter bei jeder Gelegenheit anbringen.

Und doch geht die Stadt bei der Umsetzung des neuen Schulzentrums West am Sportzentrum zielstrebig voran…
Da geht es um das Thema Bildung als eine der wichtigsten kommunalen Pflichtaufgaben überhaupt und darum, was wir der jungen Generation in der Stadt bieten können. Dafür muss Geld da sein. Außerdem ersetzen wir – was längst überfällig ist – ein nicht mehr sanierbares Schulgebäude, nämlich die Albert-Schweitzer-Schule. Deren Areal wiederum ist als Wohngebiet vermarktbar, ebenso wie jenes der Bach-Schule, die dann ja unter das Dach der neuen Schule schlüpft. Das ist auch finanzpolitisch etwas ganz anderes. Grundsätzlich: Viele wissen, dass Bildung in dieser Stadt nicht nur ein ganz bedeutender Standortfaktor ist, sondern auch unserem Ziel der kommunalen Verantwortungsgemeinschaft entspricht. Da ist Weinheim ganz Bildungsstadt. Das neue Schulzentrum West ist ohne Alternative.

Sind Sie mit der Schullandschaft am Bildungsstandort Weinheim zufrieden?
Wir sind gut aufgestellt. Aber jeder weiß, dass ich eine Verbindliche Ganztagesschule in der Innenstadt für richtig halte, so wie es der Gemeinderat in einem Rahmenkonzept auch einmal beschlossen hat. Dass der Gemeinderat im Herbst die Schulkonferenz und ein Elternvotum überstimmt hat, das halte ich nach wie vor für beschämend.

Um beim Thema Finanzen zu bleiben, die Stadt nimmt neue Schulden auf. Trotzdem wird kräftig investiert. Wie passt das zusammen?
Das passt sehr gut, wenn man sieht, dass in Substanzerhaltung investiert wird. Ich denke an die DBS-Sporthalle, die Mehrzweckhalle Hohensachsen aber auch an viele städtische Wohnungen, die nach und nach saniert werden, um wirklich allen Wohnraum auszuschöpfen. Die Erhaltung der Bausubstanz ist ein Thema, das leider zu lange vernachlässigt worden ist. Aber es war eben auch nie genügend Geld für alles da. Damit wäre ich wieder beim Thema Gewerbeansiedlung.

Auch ein Wirtschaftsthema, der Einzelhandel. Da können Sie mit dem Jahr 2016 zufrieden sein, oder?
Ja, da habe ich das Gefühl, dass wir mittlerweile etwas von dem ernten können, was wir jetzt schon seit fast 20 Jahren säen. Gerade bei der Weinheim Galerie, aber auch dem Fachmarktzentrum am Ehemaligen Güterbahnhof, waren ja Bauleitplanungen erforderlich, bei denen wir durchaus mit Visionen bei der Planung ein Wörtchen mitgeredet haben. Deshalb sage ich auch: Die Ansiedlung eines Modepark Röther, eines Media-Marktes oder auch die Entwicklung am Mult-Zentrum sind ein Glücksfall, aber ein Zufall sind sie nicht. Über diese Entwicklung bin ich wirklich sehr erleichtert, Weinheim ist jetzt auch beim Einkaufen das richtige Mittelzentrum der Bergstraße, wie wir es zum Beispiel bei der Kultur, der Freizeit, den touristischen Attraktionen und beim Bildungsangebot schon eine Weile sind.

A propos Mittelzentrum, Weinheim entwickelt sich weiter und wächst. Geht das nicht zu schnell?
Nein, gar nicht. Unser Stadtentwicklungs-Highlight ist ja das Areal westlich des Hauptbahnhofs. Auf dieses Quartier freue ich mich besonders! Aber die Realisierung wird schon wegen des Umzugs der GRN-Pflege nicht von heute auf morgen gehen. Wir rechnen mit Terminen nach 2020. Deshalb haben wir auch das Gebiet „Allmendäcker“ vorgezogen, das schneller in die Umsetzung gehen kann, weil es komplett der Stadt gehört und im Flächennutzungsplan sowieso als Bauland vorgesehen ist. Die beiden Gebiete werden sich zeitlich und inhaltlich keine Konkurrenz machen. Der Bedarf und die Nachfrage sind enorm. Sollten wir warten, bis Familien aus Weinheim wegziehen, weil sie keinen bezahlbaren Wohnraum finden?

In den „Allmendäckern“ fördert die Stadt soziales Bauen, dafür ist dann Geld da, sagen manche?
Das ist in der Tat ein differenziert zu sehendes Thema. Denn natürlich sind die Kommunen nicht zuständig für den Sozialen Wohnungsbau. Und ich sehe auch gar nicht ein, weshalb wir als letztes Glied in der Kette bei einer Aufgabe einspringen sollten, die von Bund und Land seit Jahren sträflich vernachlässigt wird. Aber insgesamt haben wir natürlich eine Verantwortung für den sozialen Frieden in unserer Stadt. Anders ausgedrückt: Soziale Spannungen fallen uns auf die Füße. Also haben wir uns für diesen Weg entschieden. Weinheim soll eine soziale Stadt bleiben und eine Heimat für Menschen jedes Einkommens.

Was wünschen Sie sich für 2017?
Das ist eine schwierige Frage, weil 2017 ein schwieriges Jahr wird. Die Welt steckt voller Konflikte, die bis zu uns ihre Auswirkungen haben, nicht nur wegen der dadurch ausgelösten Migration. Die Demokratie in Deutschland und Europa hat schon bessere Zeiten erlebt, und ich habe das Gefühl, dass wir uns an der Basis um diese Demokratie kümmern müssen. Ich wünsche mir, dass gesellschaftliche Solidarität und Empathie zum Motto des Jahres werden. Sonst könnte sich die Tendenz fortsetzen, dass sich immer mehr Menschen in Wut zurückziehen, und das Allgemeinwohl gegen das „Mein Wohl“ schlechte Chancen hat. Das wäre der Nährboden für politischen Populismus, der allerorten leider erstarkt. Wir sind in Weinheim allerdings so weit, dass es viele Kräfte gibt, die diesem Trend entgegenwirken. Das stimmt mich wiederum optimistisch.